Wie gehen wir mit Katastrophen um?

Aus dem WDR2 Studio NRW. Sendetermin war der 09.02.2023:

Moderator: Jeden Tag neue furchtbare Bilder vom Erdbeben in der Türkei und in Syrien. Unfassbare Zahlen zu Todesopfern und Verletzten. Und es sind längst die Einzelschicksale, die uns bewegen, muss man sagen. Wie ein Mann in den Trümmern sitzt beispielsweise und die Hand seiner toten Tochter hält und nicht loslassen kann oder will, die unter einem Schuttberg liegt. Ich muss gestehen, dieses Foto hat mir gestern oder vorgestern war es, so ein bisschen den Rest gegeben zu dem ganzen Thema. Ich hab kaum noch die Kapazität, mir das alles anzugucken, muss ich ehrlich gestehen. Dabei es natürlich – weiß ich auch – jeder Mensch dort, dass wir mitfühlen, dass wir uns verbinden, oder natürlich auch helfen. Trotzdem ist das eine Frage, die im Raum steht:  “Wie gehen wir mit dieser Katastrophe, der nächsten Katastrophe jetzt um? Können oder sollen wir vielleicht sogar einfach das ganze Thema ignorieren? Sind wir schlechte Menschen, wenn wir uns mit dem Leid nicht beschäftigen wollen?” Die Frage kann uns vielleicht Dr. Christian Lüdke beantworten, Psychotherapeut und Fachmann bei Ängsten und Traumata. Also, wenn ich im Büro sage in der Mittagspause: “Leute, Erdbeben ehrlich, lasst mich in Frieden. Interessiert mich nicht mehr. Ich kann das einfach nicht mehr ertragen.” Ist das OK, das so zu sagen?

Dr. Christian Lüdke: Das ist vollkommen OK, wenn wir das genau so formulieren, denn diese ganzen schrecklichen Bilder, die führen bei uns auch zu einem Stress, der dann am Ende ins Nervensystem einsickert und uns dann auch selber schleichend traumatisieren kann. Man könnte sagen, “Meine Kraft ist deine Kraft.” Nur wenn es mir gut geht, geht es auch anderen gut. Und nur wenn ich mental weiterhin robust, stabil und belastbar bin, kann ich auch anderen Menschen helfen und letztendlich auch emphatisch sein. Von daher finde ich es auch ganz wichtig, immer wieder auch abzuschalten und sich nicht permanent solchen Bildern und Nachrichten auszusetzen.

Moderator: Trotzdem sagt vielleicht ein Arbeitskollege oder eine Arbeitskollegin: “Mensch du bist ja irgendwie kaltherzig.” Oder: “Kannst du das nicht mitfühlen?” Also was Menschen verkraften ist ja offenbar ganz individuell. Es gibt ja kaum ein Verständnislevel, bei dem man sagt: “Das ist OK, dass du dich ab jetzt verschließt.” Was antworte ich denn dann im Nachgang?

Dr. Christian Lüdke: Man kann dann antworten, dass es bei uns Menschen kein dickes Fell gibt. Es gibt mittlerweile viele Studien dazu. Auch alle die, die in Blaulichtberufen tätig sind, Feuerwehr, Polizei, Rettungsdienste, wo man meinen sollte, die härten ab. Das ist nicht der Fall. Es gibt immer Sollbruchstellen, dann sehe ich ein Bild, ich sehe dieses Kind, hab vielleicht selber ein Kind oder ein Enkelkind, dann kann mich das also wirklich in dem Augenblick vom Stuhl hauen. Das hat also nichts mit Desinteresse / Gleichgültigkeit zu tun, sondern wir müssen uns schützen, um letztendlich am Ende selber stabil und mental auch gesund zu bleiben.

Moderator: Selbst wenn wir uns schützen wollen, mit Dosierung beispielsweise, ist das Netz ja voll von Bildern und Leid. Jetzt sage ich mal, es gibt ganz viele türkische Mitbürger, die sind betroffen, die sehen, was in ihrer Heimat passiert mit Angehörigen, mit Familie, mit Freunden. Wie schaffen die das denn möglicherweise, das Handy mal wegzulegen und eben nicht mehr permanent diese neuen Nachrichten zu checken?

Dr. Christian Lüdke: Also die müssen tatsächlich dann, auch wenn es schwerfällt, diese Handys mal an die Seite legen, denn es gibt seit vielen Jahren Studien zu dem Thema Bilder, Medien und Trauma und alleine das permanente Betrachten solcher Bilder kann dann auch die Zuschauer, die Betrachter traumatisieren. Es ist ganz wichtig, das immer sehr dosiert zu machen und zwischendurch sich buchstäblich abzulenken. Das hat nichts mit Verdrängen oder Desinteresse zu tun, sondern es ist ein Großteil auch Biochemie. Wir müssen Ablenkung finden. Wir müssen Dinge [machen], die auch Spaß / Freude bereiten. Nur so können wir davor schützen, dass diese traumatischen Ereignisse in unser Nervensystem einsickern.

Moderator: Die Katastrophen und Sorgen der letzten Jahre haben sicher mit uns was gemacht, was auch das Grundverständnis und das Level angeht des Aushaltbaren. Pandemie, Krieg, Armut, vielleicht ganz persönliche Schicksale noch on top. Wie schützen wir uns denn generell dann vor dem Zuviel an solchen Stellen, wo wir merken, ach eigentlich, ich kann nicht mehr. Ist es Sport, ist es der Urlaub, ist es der kleine Urlaub, ich sag mal  ein paar Minuten im Tag? Was ist denn da ihr Tipp?

Dr. Christian Lüdke: Ja, der Tipp ist Bewegung, Ernährung und Entspannung. Das heißt, es ist wichtig, sich zu bewegen, Sport zu machen, rauszugehen, an der frische Luft zu sein. Es ist wichtig, aber auch auf die Ernährung zu achten, nach Möglichkeit keine versteckten Zucker zu sich zu nehmen. Und es ist immer eine gute Idee, Entspannungstechniken anzuwenden. Ob es aktive oder passive Entspannungstechniken sind. Es gibt Studien, die zeigen, dass es super hilfreich ist, z.B. Super-Mario oder einfache Computerspiele zu spielen. Ich kann meine Lieblingsserie bei Netflix 20-mal gucken, oder einfach mich mit meinen Freunden treffen. Es ist wichtig, dass wir natürliche Rauschzustände erleben, wo wir viel Spaß und Freude haben. Das ist das beste Gegenmittel gegen diese schrecklichen Bilder.

Moderator: Dr. Christian Lüdke auf WDR2, Fachmann für Krisenbewältigung sagt, es ist absolut OK und auch notwendig sich zu schützen und schlimme Bilder oder Themen wie das Erdbeben in der Türkei und in Syrien auszublenden.

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